1. #1
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    Standard Riseup pleite - Jeder zahlt freiwillig was er kann - Funktioniert das im Kapitalismus?

    Über die Medien wurde ich auf die derzeit herrschenden Probleme von Riseup aufmerksam. Sie bieten sichere, alternative Webdienste wie E-Mail Konten und Chatserver an. Die Nutzer müssen dafür nichts zahlen, werden aber entgegen der bekannten Freemailer wie Gmx, Web oder Googlemail nicht mit Werbung genervt. Auch findet kein Weiterverkauf der Nutzerdaten statt. Ziel ist es, dem Nutzer eine möglichst große Privatsphäre zu gewähren. Den Dienst gibt es seit bald 20 Jahren (1996 gegründet). Nun steht er aber kurz vor dem Aus. Laut dem Betreiber sind die Nutzerzahlen zwar gestiegen. Die freiwilligen Spenden, mit denen sich der Anbieter finanziert, dagegen gesunken. Jeder Nutzer müsse bloß 1 Dollar spenden.

    Diese traurige Meldung hat mich zu der Frage geführt: Kann das bezahlen auf freiwilliger Basis im Kapitalismus für einen Dienst funktionieren, der laufenden Kosten hat und daher eine gewisse Menge an regelmäßigen Einkünften benötigt, um am Leben gehalten zu werden? Aus rein kapitalistischer Sicht müsste ich das Angebot ja ausnutzen, sprich in Anspruch nehmen ohne zu bezahlen - das würde das beste Preis-Nutzen Verhältnis bieten. Denken viele Nutzer so, kann der Dienst aber nicht funktionieren, weil der den Betreibern dann mehr Kosten verursacht als sie von den anderen Nutzern Spenden erhalten.

    Im Kapitalismus müsste ich mich als Nutzer also entgegen unserem System dazu überwinden, dem Dienst zumindest einen angemessenen Betrag von z.B. 1€ für ein Mailkonto monatlich zu überweisen. Damit verschlechtert sich für mich aber der Nutzwert. Für diese Entscheidung handle ich aber entgegen des Systemes und des eigenen Nutzens. Somit gehe ich davon aus, dies funktioniert nur, wenn der Nutzer auf die moralische Ebene angesprochen wird. Aber klappt das im Alltag? Dafür müssten mehr Menschen auf dieser moralischen Schiene angesprochen werden, als rein kapitalistisch orientierte. Das dürfte vor allem bei jenen Menschen schwierig sein, denen die Moral egal ist und bei denen nur der eigene Nutzwert zählt.

    Gerade der Fall von Riseup lässt mich daran zweifeln. Zuerst dachte ich, es sind vielleicht noch zu viele Menschen naiv. Sodass das Problem nicht in der Bereitschaft der Menschen liegt, sondern viel mehr in ihrer mangelnden Information, wodurch sie erkennen, dass Anbieter wie Riseup einen klaren Mehrwert gegenüber werbefinanzierten Diensten bieten. Aber wie der Betreiber berichtet, sind ja die Nutzerzahlen deutlich gestiegen, und die Spenden sogar gesunken. Es gibt also mehr Leute die diese Dienste in Anspruch nehmen möchten, jedoch sind weniger bereit dafür etwas zurück zu geben.

    Das klingt für mich doch leider recht eindeutig: Die Menschen nutzen solche Angebote aus - anstelle wie vom Betreiber vorgesehen die Kosten gerecht aufzuteilen, sodass jemand mit üppigem Gehalt z.B. 20€ pro Monat spendet, damit ärmere Menschen mit wenig Geld den Dienst ohne Kosten verwenden können.

    Müssen wir also beschämend einsehen, dass sozialistische Prinzipien nicht nur als komplettes System eines Staates nicht funktioniert, sondern auch für einzelne Projekte zum Scheitern führt?
    Gibt es hier eventuell sogar ein negatives Umdenken in der Gesellschaft? Riseup konnte sich ja 16 Jahre finanzieren, und jetzt übersteigt die Anzahl der kostenlosen Nutzer die der Spender?


  2. #2

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    Standard AW: Riseup pleite - Jeder zahlt freiwillig was er kann - Funktioniert das im Kapitalismus?

    Ich meine, mit "Kapitalismus" hat es nichts zu tun, wenn jemand Güter und Dienstleistungen verschenkt, und merkt, daß die Menschen nicht auf seine Bitte um damit verbundene freiwillige Zahlungen reagieren. Das hat etwas damit zu tun, ob die Menschen anständig sind oder nicht. Daß "die Produktionsmittel Privateigentum sind und die Wirtschaft vor allem durch die Mechanismen des Marktes (und nicht durch eine staatliche zentrale Lenkung) gesteuert wird" (= Kapitalismus) hat nichts damit zu tun, ob die Menschen anständig sind oder nicht. Daß der Kapitalismus zur Unanständigkeit erzieht, wird von vielen behauptet, ist aber in meinen Augen Unsinn. Der Kapitalismus existiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist eine Organisationsform für bestimmte Schaffensbereiche menschlicher Gesellschaften. Wie Asozialität behandelt wird, ob sie abgelehnt oder toleriert wird, bewirkt nicht der Kapitalismus, sondern diese menschlichen Gesellschaften.

    Im real existierenden Sozialismus gab es auch Betrüger und Schmarotzer, und daher auch Gefängnisse. Es bestand sogar Pflicht, zum allgemeinen Wohlstand beizutragen, also Arbeitszwang. Wer sich dem entzog, kam ins Gefängnis. Hier muß ich mit einem großen Irrtum aufräumen: "Sozialistische Prinzipien" waren es niemals, allen Menschen einfach so Güter und Dienstleistungen gratis zur Verfügung zu stellen, sondern es wurde immer vorausgesetzt, daß die Menschen dies auch durch entsprechende eigene Beiträge vergüten. Das ist die ganz große Schwäche des sozialistischen Haupttheoretikers Marx, der folgendes Grundprinzip des Kommunismus behauptete: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen"... Was aber, wenn die Menschen ihre Fähigkeiten nicht einbringen wollen? Was, wenn sie über ihre Bedürfnisse verbrauchen? Was, wenn die Summe der Werte, die durch die "Fähigkeiten" aller zusammengenommen zustandekommt, die Summe der "Bedürfnisse" weit übersteigt? Marx hatte ein Idealbild vom Menschen, demzufolge dies im Kommunismus einfach nicht vorkommen könne. Weil die Arbeit im Kommunismus solche Freude macht, arbeiten die Menschen dort wie verrückt, und verbrauchen kaum etwas, weil sie Konsum nur von dem abhalten würde, was sie eigentlich total befriedigt: Ihre Arbeit. Ja, das war die Vorstellung von Marx, zugespitzt formuliert. Da die Realität aber anders aussieht, sah der reale Sozialismus dann auch erheblich anders aus als der theoretische.

    Ansonsten stimmt natürlich, daß kostenlose werbefreie Dienste einen klaren Mehrwert gegenüber kostenlosen werbefinanzierten Diensten haben. Aber hat ein werbefreier Dienst, der 1 Euro im Monat kostet, immer noch einen klaren Mehrwert gegenüber kostenlosen werbefinanzierten Diensten? Meine Antwort: Nein. Die können ja mal versuchen, die 1 Euro zur Zwangsgebühr zu machen. Dann ist mindestens die Hälfte ihrer "Kunden" weg, schätze ich mal. D.h. deren Problem ist, daß sie zwar was anbieten, was ganz nett ist, aber auch nicht soooooo nett.
    Geändert von freulein (11.09.2016 um 12:09 Uhr)

  3. #3
    Avatar von DotNet
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    Standard AW: Riseup pleite - Jeder zahlt freiwillig was er kann - Funktioniert das im Kapitalismus?

    Sicher wäre es übertrieben zu sagen, der Kapitalismus ist daran alleine Schuld. Zumal man auch schlecht sagen kann, wie sich die Gesellschaft ohne Kapitalismus entwickelt hätte. Hier vom Ideal wie es z.B. Marks beschreibt auszugehen, ist sicher leichtsinnig. Dennoch denke ich, dass er seinen Teil dazu beiträgt. Denn letztendlich geht es beim Kapitalismus doch ums Kapital. Die Leute werden darauf gedrillt, möglichst wenig für eine Leistung zu bezahlen. Denn so können sie sich mehr leisten, und haben dadurch einen Vorteil. Ich denke, dass es hier systembedingt den Menschen leichter fällt, unanständig zu handeln.

    In einem Laden wird es ja auch eher nicht erwartet, dass man 10 Euro bezahlt, wenn an der Kasse nur 6 verlangt werden. Sondern man bezahlt den Preis, rundet im besten Falle ein paar Cent auf, aber das war es dann meistens. Übertragen auf Riseups Finanzmodell hieße das gar nichts bezahlen. Darüber hinaus denke ich, dass auch die Kostenlos-Kultur des Internets darauf einen Einfluss hat. Gerade durch werbefinanzierte Dienste sind die Menschen es gewohnt, für viele Dinge nichts zu bezahlen, allen voran E-Mail Konten (es gibt dutzende Freemailer). Bestätigt sehe ich das bei Zeitungen. Viele verlangern sich zunehmend aufs Internet, aber die Mehrheit ist nicht bereit wie bei der Papierversion zu bezahlen, weil sie es kostenlos gewohnt ist.

    Dass ein werbefreier Dienst für 1 Euro keinen Mehrwert gegenüber einem kostenfreien bietet, kann ich überhaupt nicht unterschreiben. Ein solcher Dienst schützt die eigenen Daten und Privatsphäre. Zugegeben sind das Werte, die viele nicht als solche sehen, weil sie eher unsichtbar sind. Beziehungsweise erst sichtbar werden, wenn es schon zu spät ist (z.B. Werbeflut wegen Datenverkauf). Spätestens seit Snowden sollte man aber meinen, dass hier die Menschen sensibilisiert worden sind und damit aufwachen, aber naja. Viele wissen nicht, was sie nicht wissen und denken daher leichtgläubierweise, nichts zu verbergen zu haben. Ansonsten hat man den Vorteil, keine Werbung zu kriegen. Auch einige große Freemailer wie gmx haben die Möglichkeit, Werbung in Form von Mails zu verschicken, entdeckt. Hat für sie den großen Vorteil, dass die kein Adblocker blockiert. Sowieso nicht bei der Nutzung nativer Mailclients wie Outlook oder Apps am Smartphone.

    Ergänzend dazu bekommt man eine Domain, die nicht jeder 2. Internetnutzer besitzt. Bei größeren Anbietern kann man in der Regel sogar aus mehreren Aussuchen. Oft sind auch Zusatzleistungen mit dabei. Etwa mehr Speicherplatz, größere Anhänge, E-Mail Aliase und ähnliches. Sicher legt da nicht unbedingt jeder Wert darauf. Aber in der Regel ist es nicht so, dass man für 1:1 die gleichen Leistungen bezahlt, wie man sie bei jedem Freemailer auch unentgeldlich erhalten würde.

    Im Krieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer!

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    Fritz (11.09.2016)

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