2100 Sekunden
Mein Blick wandert starr von einem leblosen Objekt zum Anderen. Diese raue, dunkle Stimme hallte in meinen Ohren nur noch so, dass ich die letzten Laute wahrnehmen konnte. Der Rest ist nichts anderes als ein Rufen in Richtung eines langen, dunklen Tunnels, aus dessen Ende nur wirre Geräusche wahrzunehmen sind. Es macht mich verrückt. Dieses Ticken. Wer besitzt heutzutage noch so eine laut tickende Uhr? Grässlich. Und das auch noch in einem Sprechzimmer? Wie unprofessionell für seine Verhältnisse. Und dann die unzähligen Urkunden. Wem will er imponieren? Was soll es bezwecken? Den hier, auf demselben Stuhl sitzenden Menschen, nur noch mehr versichern, dass sie doch so krank sind? Nein, auch die letzte Hoffnung auf ein menschliches Versagen des Arztes erstickt zwischen den Urkunden. „Ist soweit alles verständlich für Sie? Soll ich eventuell ein wenig langsamer reden?“ Allmählich wurden seine Worte deutlicher. Die Stimme jedoch, blieb rau und dunkel. Ich weiß genau, er hoffte auf keine direkte Antwort. Er weiß, wie ich mich fühle – hat es doch bestimmt schon so oft hinter sich. „Alles in Ordnung“, erwiderte ich monoton. „Eine Knochenmarktransplantation wäre das Idealste für Sie, die Warteliste sieht jedoch nicht sehr erfreulich aus. Bei vorsorglichster Chemotherapie bleiben Ihnen höchstens 9 Monate.“ Als hätte ich den Kloß in seinem Hals nicht bemerkt, kurz bevor er letzteres aussprach. Wie es wohl wäre, wenn ich solche Nachrichten überbringen müsste? Doch bei der Vorstellung bleibe ich lieber auf meinem Stuhl. Dieser scheint mir sowieso viel gemütlicher, als sein Bürosessel aus kaltem Leder. Dessen Innenfutter schon weichgesessen ist, und gar kein Puffer mehr bietet. Während im Hintergrund Wörter fallen, wie „Umgang“, „Haarausfall“, „Perücken“ und am intensivsten „Leukämie“, bin ich gedanklich schon bei meiner Familie, die zu Hause sitzt und all ihre Hoffnung zusammenstaut. Nach gefühlten drei Stunden darf ich dieses Zimmer nun endlich verlassen. Ein Blick auf die grässliche Uhr zeigt mir, dass nicht mehr als 35 Minuten vergangen sind. 2100 Sekunden reichen also, um eine Person mit seinem Tod bekannt zu machen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dies sein neuer Rekord war. Hoffentlich kann ich den lange verteidigen. Dann hätte ich wenigstens ein positives Ereignis aus dem Zimmer mitgenommen.
Zuhause angekommen, sah ich meine Mutter, wie sie in den Armen meines Dad’s nach Halt sucht. Meine Schwester sitzt gleich daneben. Es ist nicht zu übersehen, ihre Anstrengung das Offensichtliche zu Verbergen. Ein leichtes Nicken meinerseits reichte aus, um ihre Hoffnung wie ein Kartenhaus zu zerstören. Mutter und Schwester zeigen ihre Trauer sehr deutlich, mein Vater hingegen versuchte es auf die harte Tour. Wahrscheinlich komme ich nach ihm. Ich wollte nichts anderes als in mein Zimmer gehen, und Ruhe finden. Mein Körper schmiedet sich der teuren Matratze so wohltuend, ich könnte auf der Stelle einschlafen. Stattdessen schwirren mit Gedanken durch den Kopf, die will ich gar nicht. Ich entkomme ihnen aber nicht. Hätte ich nicht mehr aus meinem Leben machen können? Ich bin 20, und wo stehe ich? Was habe ich wertvolles erreicht, an das sich alle erinnern werden? Dann schoss mir eine Frage in den Sinn, die ich mir nicht stellen wollte. Warum gerade ich? Kurz darauf fing meine Nase an leicht zu jucken. Ich schlage meine Augen viel schneller auf und zu, als gewöhnlich. Ich befürchte, es bricht gleich aus mir heraus. Dabei will ich das doch gar nicht. Ich möchte wie ein Erwachsener damit umgehen. Aber kann man überhaupt Erwachsen genug sein, um damit „normal“ umzugehen? Plötzlich ertönt der Dreiklang meines iPhones. Soll ich es klingeln lassen? Nach reichlicher, aber schneller Überlegung nehme ich es in die Hand. „Dr. Reichert“ kann ich vom Anruf ablesen. Ich habe den Anruf entgegengenommen, und schlucke die hochgekommenen Gefühle wie ein ungenießbares, verbranntes Stück Pizza herunter. Zuerst ein kleines räuspern und ein tiefer Atemzug, dann werde ich mit Wörtern nur so überhäuft: „Sie müssen schnellstmöglich mein Büro aufsuchen, es ist sehr dringend. Unseren Schwestern ist ein schrecklicher Fehler unterlaufen. Alles andere müssen wir vor Ort besprechen.“ Ich habe sein Gesagtes wahrgenommen, auch deutlich verstanden, aber mein Verarbeitungsvermögen schien hinterher zu hängen. Wie in Zeitlupe. Meine Augen geschlossen, fasste ich einen tiefen Atemzug, und mit einmal schoss das Adrenalin durch meinen Körper. Wie in Rage richtete ich mich auf, zog mir meine völlig überteuerten Schuhe an, und rannte zum Auto. Wo sind meine verdammten Schlüssel? Ich renne zurück, stürme in mein Zimmer und hole sie. Was meine Familie wohl jetzt denkt, wenn sie mich so sieht? Dafür habe ich jetzt keine Zeit, denn gedanklich platze ich schon ins Sprechzimmer von Dr. Reichert. Zurück im Auto, fahre ich die Einfahrt herunter. Im Rückspiegel kann ich noch sehen, wie mein Vater aus der Tür stolpert und mir hinterherschaut. Das Anschnallen hat plötzlich keine hohe Priorität. Mein Fuß presst sich immer fester gegen das Gaspedal, unbeeindruckt von den ganzen Schildern. Diesen Weg fuhr ich schon oft genug, auch blind wäre das Ganze kein Problem. Was mir Dr. Reichert wohl sagen wird? Eigentlich kann ich es mir sehr gut vorstellen, will der Ahnung aber keinen großen Glauben schenken. Wer keine Erwartungen setzt, kann nicht enttäuscht werden. Ich sah ein Stoppschild auf mich zukommen, wusste aber genau, ich werde es außer Acht lassen. Der Bruchteil einer Sekunde erschien mir jetzt wie eine Ewigkeit. Mein Blinzeln nahm Sekunden an. Mein Atem gleicht einem Taucher, der einen tiefen Atemzug holt, bevor er ins Wasser springt. Ich lasse meinen Blick nach links wandern, während mein Kopf kläglich versucht hinterherzukommen. Das letzte, was ich sehe, ist ein Mercedes-Logo auf dem Kühlergrill eines LKWs.