Gigaset zieht den Stecker: Fast alle Smart Home Geräte werden zu Elektroschrott

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Gigaset zieht den Stecker: Fast alle Smart Home Geräte werden zu Elektroschrott

Das Smarte Heim wird dumm und das ziemlich schnell: Mit nur wenigen Tagen Vorlaufzeit kündigt Gigaset an, dass man die eigenen Clouddienste abschaltet. Der Großteil aller ehemals smarten Geräte werden damit unbrauchbar. Zurücknehmen wolle man diese nicht. Auch bei den Alternativen sieht es schlecht aus, da der Hersteller sich für cloud only entschieden hat. Den Kunden bleibt keine Alternative, ihre Geräte lokal ansteuern zu können und werden im Regen stehen gelassen. Und das auch noch als Ostergeschenk, denn zum Karlfreitag schaltet man bereits die Server ab.

Wer ist Gigaset und was ist dort passiert?

Gigaset existiert bereits seit 2005. Damals wurde es vom Mutterkonzern Siemens getrennt, es handelt sich also um kein Startup. Das Unternehmen ist vor allem für ihre schnurlosen (DECT) Telefone bekannt. Auch andere Geräte wie Smartphones und Tablets wurden hergestellt, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Im Januar 2024 war man zahlungsunfähig, es wurde Insolvenz angemeldet.1 Bereits Jahre zuvor wurde es an Investoren verkauft, gehört also nicht mehr zu Siemens.

Die Ursachen scheinen im Fokus auf stationäre Telefone zu legen. Hier schien Gigaset längere Zeit solide aufgestellt. Allerdings hat sich der Markt verändert. Stationäre Telefone werden zwar immer noch genutzt. Doch in Zeiten von Smartphones haben sie ihren Stellenwert eingebüßt. Zumal die Geräte qualitativ hochwertig und somit langlebig waren. Dem Unternehmen wird vorgeworfen, sich nicht breit genug aufgestellt zu haben.2 Zwar wurden auch andere Geräte wie beispielsweise Smartphones und Tablets produziert, jedoch mit eher mäßigem Erfolg.

Nach der Insolvenz im Januar 2024 stieg VTech bei Gigaset ein.3 Obwohl es nach der Übernahme zu Entlassungen kam, wirkte es zunächst, als ob das Unternehmen zu seiner einstigen Stellung als Marktführer zurück kehren könnte – Eine „Neue Ära des Wachstums“ solle es laut VTechs Präsident geben.4

Das Smart Home & Care Ökosystem von Gigaset

Bereits 2013 kam es zum Einstieg in den Bereich der Heimautomatisierung.5 Damit war Gigaset ziemlich vorne dabei, große Unternehmen wie Bosch folgten erst später.6 Dementsprechend hat sich in über 10 Jahren ein umfangreiches Ökosystem entwickelt. Im Januar 2024 listete die offizielle Webseite insgesamt 41 aktive Produkte.7 Darunter sind beispielsweise Alarmanlagen, Sensoren, Überwachungskameras, Rauchmelder, Wassermelder, Steckdosen und Geräte zur Lichtsteuerung. Für einzelne andere proprietäre Ökosysteme wie Amazon Alexa, Google Assistant, und Philips Hue gab es Schnittstellen. Es ist davon auszugehen, dass im Zeitraum von etwa 11 Jahren noch weitere Produkte im Einsatz sind – die allerdings nicht mehr gekauft/gepflegt sind und daher auf der Seite fehlen.

Doch das ist noch nicht alles. Unter der Bezeichnung Gigaset smart care wird eine Plattform für ältere, gesundheitlich beeinträchtigte oder gefährdete Menschen angeboten. Es soll den Bewohner überwachen und bei ungewöhnlichen Aktivitäten einen Alarm auslösen. Als Beispiel wird das Verlassen des Hauses zu einem unüblichen Zeitpunkt genannt. Oder wenn der Bewohner morgens nicht im üblichen Zeitrahmen aufwacht. Auch eine hohe nächtliche Aktivität im Haus bei Nacht wird erkannt.8 Zusätzlich kann der Bewohner selbst einen Alarmknopf drücken. Viele dieser Funktionen werden über die Cloud des Herstellers umgesetzt und nur im Abo für 6,95€/Monat angeboten.

Man kann über über die Sinnhaftigkeit und den Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen durch derartige Geräte sicherlich grundsätzlich streiten. Es gibt Argumente in beiden Richtungen. Unabhängig davon verlassen sich Kunden auf dieses System. Da auch diese „care“ Sparte nicht vom Investor übernommen wurde, schaltet Gigaset auch deren Server am 29.03.2024 ab. Betroffenen bleibt nur wenige Tage Zeit, um eine Ersatzlösung zu finden. Das ist gelinde gesagt schon mehr als fragwürdig. Wenn eine intelligente Steckdose nicht mehr bedienbar ist, mag das die Kunden verärgern – zu Recht, insbesondere da sie auf diesem Schaden wahrscheinlich sitzen bleiben. Dennoch ist die Tragweite eine völlig andere, im Vergleich zu Gesundheit & Pflege, wo im schlimmsten Falle Menschenleben gefährdet sind.

Was passiert ab dem 29.03.2024?

Gigaset hat eine ausführliche Erklärung veröffentlicht.9 In der Wissensdatenbank befindet sich eine zweite Seite, die im Wesentlichen die andere zusammenfasst.10 Das Veröffentlichungsdatum wird bei beiden nicht angegeben. Betroffene Kunden wurden laut Informationen Dritter am Montag, den 25.03.2024 über die Abschaltung der Cloudserver informiert. Da ich diese nicht nutze, kann ich dies nicht verifizieren. Nachdem die ersten Medienberichte von Montag Abend stammen, wirkt dies plausibel.11 Weitere folgten am Dienstag.12

Die betroffenen Kunden haben das klare Nachsehen: Gigaset hat sich vom cloud only Hype verführen lassen. Bis auf die Rauchmelder sind alle Geräte so gebaut, dass sie sich ohne Clouddienste des Herstellers nicht lokal bedienen lassen – wie man es von anderen Systemen her kennt, etwa Philips Hue. Aus Herstellersicht spart das Kosten und macht den Kunde vom eigenen Ökosystem abhängig, was aus seiner Position wünschenswert ist. So kann man beispielsweise nachträglich Abo-Gebühren für neue oder sogar bestehende Funktionen verlangen. Dies ist bei großen Hi-Fi Herstellern bereits geschehen. Dort wurde ein externer Clouddienst für das Internetradio eingebaut, der ohne Abo plötzlich nur noch sehr eingeschränkt nutzbar war. So eine Abhängigkeit wissen clevere BWLer natürlich voll auszunutzen und verdoppelten die Abokosten innerhalb weniger Jahre.

Home Assistant & co. sind bei Cloudzwang machtlos

Als quelloffene und private, herstellerunabhängige Plattform hat sich Home Assistant einen Namen gemacht. Selbst während der aktiven Lebensdauer bieten die offiziellen Systeme der Hersteller oft Nachteile: Sie werden künstlich eingeschränkt, sind schlecht bedienbar, lassen sich nicht mit Geräten anderer Unternehmen verbinden, offizielle Apps sind voller Drittanbieter-Dienste zur Überwachung und weisen weitere Nachteile auf. In einigen Fällen ermöglicht Home Assistant die weitere Verwendung von etwas älteren Geräten, die der Hersteller aus Kostengründen eingestellt hat.

Allerdings muss HA dafür mit den Geräten kommunizieren können. Gigaset erlaubt keine lokale Verbindung, der HA-Erweiterung blieb lediglich der Weg über die Cloud des Herstellers. Hier mag die Software dennoch Vorteile wie etwas mehr Privatsphäre oder Verbindung mit anderen Geräten bieten, doch die Abhängigkeit bleibt. Daher musste die Entwicklung der Integration als Folge von Gigasets Entscheidung zwangsweise eingestellt werden.13

Welche Alternativen gibt es?

Theoretisch könnte man per Reverse Engineering die proprietäre Firmware von Gigaset auseinander nehmen und eine freie Firmware entwickeln. Oder je nach verbauter Hardware eine bestehende portieren – Tasmota beispielsweise ist eine quelloffene Firmware für Geräte auf Basis des ESP8266 Chips.14 Damit lässt sich teilweise auch der von manchen Herstellern eingebaute Cloudzwang entfernen. Dies ist allerdings sehr mühsam und aufwändig, da Gigaset ihren Quellcode unter Verschluss hält. Absurder weise sogar nach einer Insolvenz und keinerlei Aussicht auf Übernahme dieses Geschäftszweiges. Neben dem Aufwand bewegt man sich bei solchem Reverse Engineering von proprietärer Software zudem oft in einem rechtlichen Graubereich.

Eine lokale, eigenständige Anbindung ohne Gigaset ist derzeit nicht in Sicht. Wohl, weil die Hürden bei Gigaset zu hoch sind und sich die FOSS-Gemeinschaft auf kooperativere Hersteller fokussiert. Immerhin wird freie Software mehrheitlich von ehrenamtlichen Entwicklern in der Freizeit gepflegt und weiter entwickelt. Würde Gigaset den Quellcode ihrer Cloud veröffentlichen, könnte die Infrastruktur mit wenigen Anpassungen alternativ selbst betrieben werden. Daran scheint jedoch keiner der Verantwortlichen Interesse zu haben. Wirtschaftlich ist das nicht, weil es etwas Geld kostet ohne neue Einnahmen zu bringen – die betroffenen Kunden haben schließlich bereits für die Geräte bezahlt.

Das bleibt Betroffenen

Mangels Softwarehaftung haben bestenfalls kürzlich getätigte Käufe eine Chance, über das 14-Tätige Rückgaberecht im Onlinehandel oder die Gewährleistungsansprüche ihr Geld zurück zu bekommen. Alle anderen können sich höchstens in die Schlange der Insolvenzansprüche stellen. Ob und wie viel ihres Schadens dort erstattet wird, ist ungewiss. Leider handelt es sich dabei um keinen Einzelfall. Amazon schaltete erst vor wenigen Wochen Echo Connect Funktionen ab15 – die Liste ließe sich noch um viele weitere Beispiele ergänzen. Produkte die zwingend einen externen Clouddienst verlangen, gehen voll auf das Risiko des Kunde.

Dieser Fall zeigt, dass Verbraucher den Profitinteressen der Hersteller hierbei ziemlich schutzlos ausgeliefert sind: Es gibt keinen Anspruch auf die dauerhafte Verfügbarkeit von Funktionen, die vor dem Kauf zugesichert wurden. Unternehmen sind nicht mal verpflichtet, nach der Einstellung ihrer Dienste den Programmcode öffentlich verfügbar zu machen, damit die Community ihn weiter pflegen könnte. Absurder weise werden daher zahlreiche technisch funktionierende Geräte wegen abgeschalteter Cloudserver entsorgt – auf Kosten der Kunden, die Gigaset vertraut haben.

Fazit: Schlecht für uns alle

Das ist nicht nur für jene Kunden ärgerlich, die in diese Plattform investiert haben und dadurch schnell vor einem Schaden in Höhe von mehreren hundert Euro stehen. Die Entsorgung von neuen, funktionierenden Geräten trägt dazu bei, dass die Menge an Elektroschrott seit Jahren extrem stark wächst. 2022 waren es 62 Millionen Tonnen, das entspricht 1,55 Millionen voll beladener 40-Tonnen LKWs – eine völlig unvorstellbare Menge. Und das nur in einem einzigen Jahr. Zum Vergleich: Das sind 82% mehr als 2010.16 Wir sind auf Kurs, die Menge an Elektroschrott in wenigen Jahren zu verdoppeln.

Recycling ist aus vielen Gründen nicht die Lösung. Schon alleine, weil es mit der extremen Menge gar nicht hinterher kommt. Gerade mal 22,3% werden recycelt. Selbst wenn das (völlig hypothetisch) anders wäre: Sowohl Produktion als auch Recycling verbrauchen viele Ressourcen, von denen wir bereits weitaus mehr verbrauchen, als nachhaltig vorhanden sind. Von der Verseuchung unseres Lebensraumes mit den vielen darin enthaltenen giftigen Chemikalien ganz zu schweigen. Aus allen diesen Problemen kommen wir nur raus, wenn weniger Geräte verschrottet werden. Somit muss die Nutzungsdauer deutlich steigen.

Mit dem, was u.a. Gigaset macht, erreichen wir genau das Gegenteil: Verbrauchern bleibt gar keine andere Wahl, weil ihr Gerät ohne Hersteller-Cloud unbrauchbar geworden ist. Hier ist die Politik gefragt. Bis dahin sind Kunden auf sich selbst gestellt und müssen vor dem Kauf gründlich prüfen, wie abhängig die Geräte sind – und im besten Falle auf hippe Cloudfunktionen verzichten. Bisher haben übrigens nicht alle Händler Gigaset aus dem Programm genommen. Dazu sind gebrauchte Geräte in Umlauf. Man kann also sogar eines kaufen, dass beim Ankommen des Pakets schon nicht mehr funktioniert.

Quellen

  1. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/gigaset-insolvenzverfahren-eroeffnet-100.html ↩︎
  2. https://www.wertgarantie.de/ratgeber/elektronik/unterhaltung-freizeit/news-trends/gigaset-meldet-insolvenz-das-sollten-sie-jetzt-beachten ↩︎
  3. https://www.gigaset.com/de_de/cms/home/presse/news-detail/news/detail/News/vtech-erwirbt-vermoegenswerte-der-gigaset-communications-gmbh.html ↩︎
  4. https://www.heise.de/news/Gigaset-Erste-Entlassungen-nach-Uebernahme-9613216.html ↩︎
  5. https://www.connect-living.de/news/gigaset-startet-smartes-sicherheitssystem-elements-1550278.html ↩︎
  6. https://www.bosch-smarthome.com/de/de/ueber-uns/ ↩︎
  7. http://web.archive.org/web/20240119072446/https://www.gigaset.com/de_de/smart-home/ ↩︎
  8. http://web.archive.org/web/20230923182003/https://www.gigaset.com/at_de/gigaset-smart-care/ ↩︎
  9. https://www.gigaset.com/de_de/cms/smart-home-uebersicht.html ↩︎
  10. https://service.gigaset.com/de/support/solutions/articles/75000121636-deaktivierung-smart-home-care-dienste ↩︎
  11. https://www.heise.de/news/Gigaset-Ende-fuer-das-Smart-Home-Care-Geschaeft-9666124.html ↩︎
  12. https://winfuture.de/news,141924.html ↩︎
  13. https://github.com/dynasticorpheus/gigasetelements-ha ↩︎
  14. https://tasmota.github.io/docs/About/ ↩︎
  15. https://www.golem.de/news/weniger-funktionen-fuer-alexa-amazon-macht-echo-connect-zu-elektroschrott-2402-182030.html ↩︎
  16. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/elektroschrott-recycling-kommt-bei-steigenden-mengen-nicht-hinterher-a-dbfa3398-df7b-4474-8629-0995b5b07a05#ref=rss ↩︎

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