Anlasslose Massenüberwachung in der EU: Verhindert Deutschland die Chatkontrolle?

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Anlasslose Massenüberwachung in der EU: Verhindert Deutschland die Chatkontrolle?

Kurz nach meinem zusammenfassenden Beitrag zur „Chatkontrolle“ hat die EU-Kommission ihren Entwurf nun tatsächlich offiziell veröffentlicht. Ich hatte nicht darauf gewartet, da der Termin seit Ende 2021 (also über Monate hinweg) bereits mehrfach verschoben wurde. Entwarnung gibt es jedoch nicht: Der Entwurf entspricht den massiven Befürchtungen aus dem vorherigen Beitrag.

Nancy Faeser macht eine Kehrtwende

Doch am Montag überrascht die Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD: Sie teilt die nun die grundsätzlichen Bedenken und hält das Anlasslose Überwachen aller Nachrichten für unvereinbar mit unseren Freiheitsrechten. Faeser stellt außerdem fest, dass man mit der Chatkontrolle viele unschuldige Menschen treffen würde. Diesen Feststellungen gibt es nichts hinzuzufügen. Verwunderlich ist allerdings, wie es zu dieser Kehrtwende kam. Bisher war die Innenministerin als Unterstützerin der EU-Chatkontrolle bekannt.

Ampel-Regierung gegen die Chatkontrolle?

Andere Politiker hatten sich bereits gegen die Chatkontrolle ausgesprochen. Darunter ist etwas Volker Wissing aus der FDP. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung ist mit dem EU-Gesetz auch nicht glücklich: Der Schwerpunkt auf die Verfolgung von Kindesmissbrauchs sei zu einseitig, ihr fehlen präventive Maßnahmen auf EU-Ebene.

In der Bundesregierung zeichnet sich eine zunehmende Ablehnung der Chatkontrolle ab. Bisher war diese Haltung nicht ganz klar, obwohl der Koalitionsvertrag ein Recht auf Verschlüsselung enthält. Dies steht zu einem nicht unerheblichen Teil im Widerspruch mit einer präventiven Überwachung aller Menschen in der EU.

Beispiellos, unverhältnismäßig, umfangreichste Überwachung der Massen außerhalb Chinas: Massive Kritik gegen die Massenüberwachung

Nicht nur in der Politik gibt es eine Welle der Kritik. Auch Presse, Verbände, Soziale Netzwerke und die Zivilbevölkerung sind über das Vorhaben der EU empört. Der Deutsche Kinderschutzbund bezeichnet die Pläne als „weder verhältnismäßig noch zielführend“. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte fürchtet den Beginn zur Einschränkung von Grundrechten. Ein bekannter Verschlüsselungsforscher beschreibt den Entwurf als „die ausgeklügelteste Massenüberwachungs-Maschinerie, die je außerhalb Chinas und der UdSSR“ entwickelt wurde.

Der Entwurf überschreite alle Vorstellungen, es brauche mehr Personal um Kinder zu Schützen, Verschlüsselung wird zerstört und das Vorhaben ist nicht mit europäischen Werten vereinbar sind weitere Reaktionen aus verschiedenen Kreisen. Mehr als 100.000 Menschen haben innerhalb eines Tages eine Petition gegen die Chatkontrolle unterschrieben, derzeit sind es schon über 140.000. Auch der Deutsche Kinderschutzverein ist skeptisch und weist darauf hin, dass die Ermittler bereits zahlreiche Hinweise erhalten, aber diese nicht strukturiert bearbeiten. Auch darauf hatte ich in meinem vorherigen Beitrag bereits angesprochen: Das BKA gibt an, aufgrund von Personalmangel nichts gegen die Bilder zu unternehmen. Der Kinderverein spricht sich gegen den Missbrauch des Kinderschutzes aus.

„Wie weit muss die EU-Kommission gehen, um mit den Regierungen von China und Russland in einen Topf geworfen zu werden?“ wird beim Spiegel gefragt. Ein Golem-Redakteur stellt fest, es gebe nicht mal in Russland oder China eine Chatkontrolle – solche Massenüberwachungsmaßnahmen ohne begründeten Verdacht würde man nur von autoritären und totalitären Regierungen kennen.

Deutsche Gesetze dienen als Vorbild für Zensur und Überwachung im Ausland

Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt. 2018 führte Deutschland das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ein. Zahlreicher Kritik über Zensur und Overblocking zum Trotz verpflichtet es Betreiber von Sozialen Netzwerken wie z.B. Facebook dazu, möglicherweise Strafbare Inhalte schnell zu entfernen. Später wurde das Gesetz noch einmal erweitert, sodass die Betreiber möglicherweise illegale Inhalte eigenständig an Ermittlungsbehörden melden sollen. Dies unterstreicht den Hauptkritikpunkt: Staatliche Aufgaben werden an private Unternehmen abgegeben, die aus Angst vor hohen Strafen lieber zu viel als zu wenig löschen.

Der Bundestag verabschiedet erst 2 Jahre später im Jahr 2020 auch diese Erweiterung. Kritik wie z.B. die des UN-Sonderberichterstatters für Meinungsfreiheit blieb ungehört: Er sah bereits 2017 in der ersten Fassung Verstöße gegen die Menschenrechte. Trotzdem folgte noch eine zweite Verschärfung.

In Deutschland sind die Auswirkungen noch überschaubar – nicht zuletzt allerdings weil große Internetfirmen geklagt haben und Teile daher vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Andere Befürchtungen sind dagegen bereits wahr geworden: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ein Exportschlager. Zahlreiche Länder haben sich davon inspirieren lassen – sowohl mehr als auch weniger demokratische. Zu letzteren gehört Russland, die eine Kopie des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes noch 2017 verabschiedet haben.

Ein Extrembeispiel ist die Türkei. Dort versucht der Staat schon länger, gegen Meinungsfreiheit vorzugehen. Auch in der Türkei wurde das Netzwerkdurchsetzungsgesetz kopiert. Und nutzt es aus, um eine neue Dimension von Überwachung sowie Internetzensur zu ermöglichen – wie in Deutschland schon vor Jahren befürchtet. Das ist keineswegs Einzelfälle. In den ersten drei Jahren haben mindestens 13 Länder sehr ähnliche Gesetze erlassen oder vorgeschlagen. Viele berufen sich sogar ausdrücklich auf das Deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz als Vorbild. Nach dem Motto: Wenn eine Vorzeige-Demokratie wie Deutschland das verabschiedet, kann es doch nicht schlecht sein.

Fazit: Die Gesetze werden Extremer

Es ist eine Tendenz von immer schärferen Gesetzen zu erkennen. Dafür gibt es zahlreiche weitere Beispiele, wie etwa die verschärften Polizeigesetze. In Bayern ist dadurch Beugehaft von 3 Monaten mit unbefristeter Erweiterung möglich – ohne jegliche Anklage, wie es ein Rechtsstaat vorsieht. Die Chatkontrolle ist eine weitere Steigerung zu einem noch extremeren Gesetz – zumal dies für die gesamte EU geplant ist. Zumindest dieses Vorhaben kann gestoppt werden, wenn die Bundesregierung dagegen stimmt. Die Chancen dafür scheinen zunehmend besser zu stehen.

Allerdings wirft dieser Trend grundsätzlich Bedenken auf: Mit solchen Gesetzen rücken wir näher an China, Russland & co. statt an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Wollen wir das wirklich? Es wirkt jedenfalls wenig glaubwürdig, wenn wir einerseits unsere Werte selbst immer weiter einschränken, zeitgleich aber andere Länder dafür kritisieren. Ob Russland, China & co. bald auch eine Chatkontrolle nach EU-Vorbild einführen? Ich wäre nicht stolz darauf…

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